Schon auf dem Ärmelkanal hatte unser Autopilot eine gewisse Eigenwilligkeit an den Tag gelegt und hatte uns wie leicht betrunken etwas «taumelnd» in Richtung Calais geführt. Als wir von Calais losfuhren und er uns beim Grosssegel-Setzen im Wind halten sollte, vollführte er eine sehr plötzliche Rechtsumkehrt-Kurve, bei der ich die Patenthalse nur ganz knapp noch abfangen und uns ebenfalls nur knapp an der grossen roten Tonne vorbei steuern konnte. Bei unserer Ankunft in Dunkerque war dann endgültig fertig. Wir wollten das Grosssegel im langen Schlauch der Hafeneinfahrt bergen, aber unser Erich steuerte uns jedes Mal, wenn ich ihn einstellte, direkt auf die ziemlich nahen Mauern zu. Auch der Skipper schaffte es nicht, ihn zur Räson zu bringen. Unser Autopilot hatte offenbar seine vollständige Autonomie erklärt. Oder sich in den Urlaub verabschiedet…
Das Segelberge-Manöver wurde daraufhin etwas weniger sorgfältig ausgeführt als üblich und wir suchten uns ein freies Plätzchen in der recht vollen Marina von Dunkerque; fast alle Besucherplätze waren von Holländern belegt. Es sah aus, wie wenn gerade ein grösserer Exodus von Seglern aus jenem Land stattfinden würde.
Wir hatten von Calais aus die Nachmittags-Tide und einen leichten Wind aus Nordost genutzt, um die 25 SM im Sonnenschein nach Dunkerque zu kreuzen. Von Dunkerque sahen wir nicht viel; als Segler nimmt man die Ost-Einfahrt, d.h. man segelt etwa 8 SM weiter wenn die erste Einfahrt schon gekommen ist. Aber die Ansicht ist nicht besonders schön: viele Kamine, kugelige Gasbehälter und die hohe Uferbefestigung wirken auch im schönen Abendlicht nicht besonders einladend. Am nächsten Morgen wollen wir die Morgentide nehmen. Das heisst, der Wecker wird auf 05:15h gestellt. Und so geht es bald nach der Ankunft und den schnellen Teigwaren in die Kojen und eine Dunkerque-Besichtigung, um vielleicht doch noch den versteckten Charme der Stadt zu entdecken, wird auf ein anderes Mal verschoben.
Frühmorgens am Montag, 13.7. klettere ich gerade eine sehr steile Felswand hinauf und bin selbst überrascht, wie unbeeindruckt ich von dem Abgrund unter mir vorwärtskomme. Da rutsche ich ab, kann noch gerade einen Absatz zu fassen bekommen… – und wache auf. Uff, noch mal gut gegangen. Und so schön, neben meinem schlummernden Skipper gemütlich in der warmen Koje zu liegen. Blick auf die Uhr; erst 05:50h, da kann ich mich ja nochmals umdrehen bis der Wecker läutet… Moment – 05:50h? Und wir wollten um 06:00h los? Uuuuups – Alarmstart!!! Und es gelingt; um 06:03h sind die Leinen los und sea magiX tuckert im glatten Wasser aus dem Hafen von Dunkerque. Auch draussen ist das Wasser glatt… überhaupt kein Wind.
Ohne Autopilot motoren wir bei schönstem Wetter die nächsten ca. 40 SM der Belgischen Küste entlang weiter, bis kurz vor Zeebrugge am Mittag der Strom wieder dreht und wir dort in den riesigen Hafen einfahren. Die BZYC Marina wählen wir aus, weil uns die «Welkom»-Fähnchen so freundlich hineinwinken und der Hafenmeister («Aaaah, Schweizer! Meine Schwiegereltern haben seit 40 Jahren eine Ferienwohnung in Saas Almagell – willkommen!») uns gleich freudig begrüsst.
Es geht mit kleinen Schrittchen voran. Immerhin sind wir schon in Belgien und nahe an der holländischen Grenze. Aber die Schrittchen sind schon ziemlich klein und noch sind es auf direktem Weg ca. 350 SM bis Rendsburg; unsere Schritte sollten allmählich etwas grösser werden, wenn wir in 10 Tagen dort sein wollen. Andererseits wären wir deutlich seetüchtiger unterwegs, wenn wir wieder einen funktionierenden Autopiloten hätten – der Nachmittag wird also unserem plötzlich doch extrem eigenwilligen Erich gewidmet. Und wie das so ist, erweist sich die Reparatur als komplizierter als erhofft. Schon für die Messung der Widerstände am Gerät sind die üblichen Schiffsverrenkungen nötig. Ich sehe oft nur noch ein Hinterteil von Bänz und bekomme dumpfe Anweisungen aus der Tiefe, etwas weiter rechts oder links zu drehen am Ruder. Es wird klar – der Ruderlagersensor muss ausgebaut werden. Leider ist der aus jener Backskiste «zugänglich», in welcher wir im vorletzten Winter die grosse Gasbox eingebaut haben. Da passt der Skipper nicht mehr daran vorbei hinein (Auch nicht, nachdem er in der Quarantäne viel Kgs abgenommen hat). Ich verschwinde also im Dunkeln und muss wegen meines störrischen Knies verkehrt herum drin «sitzen» und über die Hand den Sensor abschrauben. Endlich ist auch das geschafft, ohne dass eine der kleinen Schrauben in den unergründlichen Tiefen der Backskiste verloren gehen. Die Foren sagen alle, der Sensor sei nicht reparierbar sondern müsse im Normalfall ersetzt werden. Trotzdem wird er mit Spezialwerkzeug aufgeschraubt und siehe da; das eine der drei Kabel hat sich von der Lötstelle gelöst. Triumphierend sucht der Skipper den Lötkolben hervor. Der wird aber auch nach längerem Zutun nicht wirklich warm, bzw. heiss. Also Lötkolben auseinanderschrauben. Darin bietet sich ein Bild, bei dem auch mir klar wird, dass da einmal zuviel Strom geflossen ist und jetzt wohl nur noch ein Rinnsal durchkommt. Lötkolben flicken, zusammensetzen, vorsichtig das Sensorkabel anlöten. Inzwischen ist der halbe Nachmittag vergangen. Gespannt wird wieder gemessen. Bei zwei Anzeigen ist alles paletti. Bei der Dritten mit den Ruderausschlägen zeigt die Messung verdächtig wenig Unterschied. Aber wenigstens ein wenig. Also Sensor am Gerät anschliessen («Kannst Du mir bitte mal die Leuchterklemme reichen» tönt es wieder dumpf von der Backskiste her). Die Lage-Anzeige zeigt wieder an! Super! «Mehr Ruder rechts – mehr links» – lange Gesichter; die Lage-Anzeige verändert sich nicht… Die Foren hatten also wohl doch recht: ein neuer Sensor muss her. Jos, der nette Hafenmeister der BZYC-Marina, schickt uns zu Marine Technics auf der anderen Hafenseite. Wenn die Tür geschlossen sei müssten wir ums Gebäude rum und dann rein und nach Juri fragen, der wisse alles. Die Tür ist geschlossen und als wir beim Transport-Eingang daher kommen will man uns nicht wirklich wahrnehmen. Das Zauberwort Juri wirkt aber und bald hat der Verkäufer beim Raymarine-Dealer um die Ecke einen Sensor er-telefoniert. Er koste €238 plus ca. 50 VAT und wenn wir ihn wollen könne er in etwa einer halben Stunde da sein. Natürlich wollen wir – wir hatten uns schon diverse Szenarien mit Bestellungen nach Scheveningen oder Den Helder ausgemalt und damit nochmals 2-3 Tage ohne kooperierenden Erich.
Zum Zeitvertrieb spazieren wir auf der Suche nach dem Charme des Städtchens ein wenig in Richtung Zeebrügge «Dorp» und erstehen eine Schachtel mit 5 Caféglacé-Cornets im Carrefour, in dem ausnahmslos alle die Masken tragen. Im Vergleich zum letzten Mal, als wir im Januar ein Multipack Glacés erstanden, können wir uns mit dem Verarbeiten des Eises diesmal deutlich mehr Zeit lassen. Aber das Sommerfeeling dabei ist trotzdem unschlagbar.
Zurück bei Marine Technics kostet der Sensor jetzt natürlich doch mehr als €300 (er habe sich vorhin verrechnet), aber immerhin – es ist der Richtige und wir begleichen die Rechnung zähneknirschend und froh zugleich. An Bord folgt dann in umgekehrter Reihenfolge das Gleiche wie vorher; Messungen, Anschluss, neue Messungen, Abstieg in den Backskisten-Hades, Einbau gegen die Hand mit viel Gefühl (denn sehen kann ich sowieso nix im Dunkeln) in der Backskiste, zusammengeknüllte Gelenke wieder begradigen und Test – und judihui, der Nachmittag ist inzwischen zwar zum Abend geworden, aber wir haben wieder einen Autopiloten, der «geradeaus», «rechts» und «links» tatsächlich unterscheiden kann. Das fühlt sich sofort viel besser an. Unser Erich ist eben zu einem sehr wichtigen Crewmitglied geworden.
Für Dienstag, den Quatorze Juillet ist Regen und sehr wenig Wind angesagt. Wir dürfen ausschlafen; den ganzen Weg nach Scheveningen motoren und das noch im Regen wollen wir nun wirklich nicht. Wir spazieren ein wenig durch die Gegend, finden aber auch auf jenem Spaziergang wenig Zugang zu Zeebrugge. Der Ort versucht, viel für die Touristen und die Aufwertung zu machen, aber wurde wohl in den letzten Monaten von Corona gründlich aus der Bahn geworfen. Hoffen wir, dass sich die Situation auch hier wieder bessert! Die vielen zum Verkaufen oder zu Vermieten angeschriebenen Wohnungen lassen Schlimmes erahnen.
Nachmittags wird etwas mehr Wind versprochen und so raffen wir uns trotz Drizzle mit der 16h-Tide auf, um wenigstens die 15SM nach Vlissingen zu segeln. Und vor allem vorher im grossen Hafenbecken die Sea Trials mit Erich vorzunehmen, damit er uns in Zukunft wieder richtig unterstützen kann. Die Warnungen im Manual kenne ich noch vom letzten solchen Unternehmen in der Rivière Aulne letzten Sommer. «Ensure that you have at least 0.25SM clear space for your trials”, etc. etc. Die Bojen und Hafenmauern kommen gelegentlich etwas nahe, aber Erich absolviert sein Lernprogramm mit sea magiX mit Bravour und bald können wir bei inzwischen weitgehend trockenen Wetter aus dem Hafen, Segel setzen und gemütlich mit halbem Wind nach Vlissingen segeln.
Die Einfahrt bei starkem Querstrom in die enge Hafeneinfahrt und dann über den Sill durch das noch engere Loch mit zwei schnell geöffneten Fussgängerbrücken wird nochmals kurz spannend. Drinnen bietet sich uns dann aber ein typisch holländisch-traditionelles kleines Hafenbecken mit schon fast allen Plätzen belegt. Stimmt, wir sind ja inzwischen in den Niederlanden. Hier geht man – wie sich schnell zeigt – sehr viel entspannter mit Covid-19 um als in Belgien.
Den Hafenmeister finde ich an der Bar des Hafenrestaurants. Das ist voll besetzt, wuselig und niemand trägt eine Maske. Beim anschliessenden Spaziergang durch das sehr hübsche Städtchen Vlissingen sehen wir weit und breit keine Masken. Abstandsmarkierungen und gelegentliche Hand-Desinfektionsmittel-Stationen sind zwar vorhanden, aber auch da ist eine ziemlich entspannte Handhabung zu beobachten. Wir lassen uns von den feinen Gerüchen um uns herum verführen und geniessen im warm mit Schafsfell gefütterten Sessel vor dem Restaurant «1618» Wienerschnitzel und Lady Steak. Das geplante Menü aus Resten von gestern an Bord wird kurzerhand auf morgen verschoben.
Vlissingen gefällt uns gut und wir könnten uns durchaus vorstellen, hier morgen einen Tag zu verbringen und es etwas vertiefter zu erforschen. Zur Sicherheit fotografiere ich trotz dem nachlassenden Licht (immerhin ist es inzwischen nach 21h) was das Zeug hält. Das anschliessende Wetterstudium ergibt dann auch den Entschluss, am Mittwoch die Morgentide zu nutzen, um am Hoek van Holland vorbei zu huschen, denn am Donnerstag würde es wahrscheinlich bei Regen und Kreuzen deutlich unangenehmer vor der Einfahrt zum grössten Hafen Europas. Der Wecker wird wieder früh gestellt; um 7h wollen wir los.