Anders als erwartet zeigte sich der Wind am Montag, 1.7. und das Wetter von passender und angenehmer Seite. Wir hatten nach dem späten Eintreffen in Zeebrugge (ca. 22:15h) vom Vorabend und der kurzen Nacht zuvor an diesem Montagmorgen ausgeschlafen, ausgiebig geduscht und gemütlich gefrühstückt, zumal der Strom noch bis nach dem Mittag nach Osten setzte. Unsere ersten paar Seemeilen am Wind nach Westen waren denn auch gegen den Strom, aber als dieser drehte, begann es so richtig zu laufen und wir erreichten Ostende sehr bald, beschlossen deshalb weiter zu segeln und kamen auch so noch am Nachmittag ca. 25 SM weiter westlich in Nieuwpoort an.
Dort empfing uns der Hafenmeister mit einer leicht entschuldigenden Haltung, denn es sei gerade «Nieuwpoort Sailing Week» und deshalb wohl etwas viel Betrieb mit vielen Kindern und Jugendlichen aus diversen Ländern in ihren Optis, Lasern und Europes. Er brauchte sich überhaupt nicht zu entschuldigen – wir finden es super, wenn sich viele Kinder und Jugendliche auf dem Wasser austoben können. Auch unser Stegnachbar war als Begleit- und Betreuungsboot für seinen Enkel auf dem Wasser. Und erzählte uns voller Stolz, dass der inzwischen 12jährige Tobias «das wohl schon recht gut mache, da draussen, auch wenn man das vom Wasser aus kaum sehe».
Unser Abendspaziergang nach Nieuwpoort hinein, u.a. auf der Suche nach einem Fernseh-Bildschirm oder Public Viewing Area für den Achtelfinal Belgien-Frankreich der laufenden EM, zeigte uns ein sauber herausgeputztes, aber irgendwie verlassen wirkendes Städtchen. Um 18:30h waren alle Läden geschlossen. Und montags scheint auch der «Beizen-zu»-Tag zu sein. Während Sabrina zu Marina und Boot zurück kehrte, um feine Spaghetti Bolo zu kochen, suchten Skipper und Crew beim Regattazelt der Nieuwpoort Sailing Week ein Plätzchen vor dem – erstaunlich wenig belagerten – Fernsehbildschirm. Offensichtlich interessierten sich die Jungen mehr für ihre Grill-Teller als für Fussball. Als die Franzosen in den letzten Minuten des Spiels zum 1:0 trafen, lichteten sich die Reihen um uns herum sekundenschnell, bis wir ganz allein noch dastanden und den endlich erwachten Belgiern die Daumen drückten. Vergebens – die Locals hatten das zu recht schon aufgegeben.
Abends gab es ein schönes Feuerwerk «for all sailors», das wir vom Cockpit aus beobachten und uns freuen konnten, nicht im Lee der Rauchwolke zu sein.
Auch am Dienstag konnten wir einen gemütlichen Morgen verbringen und auf den passenden Strom warten. Die Fahrt am Wind über die Grenze nach Frankreich war kurz, aber sportlich. Angesichts der Ansage der Meteorologen, dass am Mittwoch relativ starker Südwest blasen würde, wollten wir in Dunkerque das Bassin der Innenstadt erforschen. Dazu muss man zuerst durch die Trystram-Schleuse auf die richtige Wasserhöhe gehoben werden und dann durch drei Brücken ins Innere gelangen. So konnte Sabrina auch noch eine Schleusung erleben. Nach unserer Anmeldung bei «Dunkerque VTS» am Funk und einer kurzen Pause, in der wir vor der Schleuse schon wieder vergessen worden waren, klappten die Durchfahrten alle perfekt. Eindrücklich, die Tausenden von Muscheln (Austern) in der Schleuse! Und spannend, wie die Trystram-Brücke durch ein Gegengewicht «aufgeklappt» wird.
Das Bassin de Commerce, in dem wir den Platz G01 ganz zuhinterst zugewiesen bekommen hatten, wirkt sehr gut geschützt und wäre wohl etwas für einen längeren Aufenthalt. Ansonsten liegen dort jedoch eher gammlige und wenig genutzte Boote; die Brücken- und Schleusen-Durchfahrt zu ganz bestimmten Zeiten ein- bis dreimal am Tag ist wohl für rege Nutzung zu aufwändig.
Für Donnerstagmorgen zeichnete sich im Wetterbericht von «Wetterwelt» ein mögliches Fenster ab, in dem wir am Wind oder mit Kreuzen vielleicht bis Calais gelangen konnten, von wo Sabrinas Zugticket für die Heimfahrt galt. Deshalb mussten wir am Mittwochabend wieder den gleichen Weg zurückfahren; 3 Brücken und eine Schleuse, um für frühmorgens am Donnerstag bereit zu sein. Die Zeit bis zur Abend-Schleusung nutzten wir bei dem strömenden Regenwetter für einen Besuch im interessanten Musée Maritime et Portuaire und erfuhren viel über die Stadt und ihre eng mit dem Hafen und dem über diesen laufenden Warenverkehr verwobene Geschichte. Der Eintritt ins Musée Portuaire ist verbunden mit einem Eintritt ins «Musée Dunkerque 1940» über die berühmte Operation Dynamo, in der in 9 Tagen mehr als 330’000 Soldaten aus dem von den Nationalsozialisten eingekesselten Dunkerque evakuiert wurden. Auch dieses Museum besuchen wir, mit Hilfe des in ganz Dünkirchen gratis zur Verfügung gestellten Busnetzes. Die Ausstellung ist sehr eindrücklich und bedrückend. Vor allem auch angesichts der Tatsache, dass zur Zeit in Europa wieder ein brutaler Angriffskrieg herrscht und Städte in Schutt und Asche gelegt werden, nationalistische Propaganda in vielen ehemals demokratischen Ländern wieder salonfähig geworden ist und wir wieder den Eindruck haben, sehenden Auges ins Verderben zu rennen, ohne etwas dagegen machen zu können oder ein sinnvolles Rezept dagegen zu sehen.
Der Spaziergang zum Strand und auf der langen Hafenmole half, wieder ein wenig Distanz zu den dunklen, traurigen Gedanken zu finden.
Am Donnerstagmorgen riss uns der Wecker schon um 04:30h aus dem in jener Nacht etwas unruhigen Schlaf. Das Wetterfenster für die Fahrt nach Calais sollte zwischen ca. 06h und ca. 11h gerade reichen, um die 20 SM nach Westen zu kommen. Es blies ein frischer Südwestwind mit ca. 5 Bft und wir hofften, dass uns der Strom mit dem Wendewinkel helfen würde. Noch in der Hafeneinfahrt setzten wir das Grosssegel mit zwei Reffs und motorten hinaus. Zwischen Dunkerque und Gravelines, ca. 5 SM westwärts, begrenzt eine Sandbank das Fahrwasser auf der Nordseite und die flache Küste an der Südseite. In dieser schmalen Spur mussten wir zumindest anfangs bleiben. Der Eintrag ins Logbuch nach der Hafenausfahrt heisst «holperige Fahrt», und noch hatten wir erst ganz wenig mitlaufenden Strom, d.h. Strom gegen Wind. Die Wellen in diesem untiefen, Fluss-ähnlichen Gebiet hatten sich zu unangenehmen, kurzen und scharfen Zacken gebildet und gaben einen Vorgeschmack, in welche Richtung sich das weiter entwickeln würde. Tapfer suchte sich sea magiX ihren Weg von einem Wellenberg zum nächsten, knallte dabei aber jedes Mal trotzdem mit voller Wucht ins Tal, schüttelte sich kurz durch und machte sich (manchmal gefühlt mit einem leisen Seufzer) wieder auf den Weg zum nächsten Berg. Zeitweise reichte es nicht mal fürs richtige Aufrichten, da kam schon der nächste Wellen-Angriff. Bei der ersten roten Boje – noch immer unter Motor und dem gerefften Gross – gab es die erste Wende. Als wir die nächste erreichten, brauchte es keine lange Entscheidungsfindung: so macht Segeln echt keinen Spass. Und schon gar nicht, wenn klar ist, dass sich das nur noch negativer entwickeln wird, mit zunehmendem Wind und zunehmendem Strom gegen Wind. Neeee, das haben wir so nicht gebucht! Skipper und Crew schauten sich kurz an – dann gabs die nächste Wende, gleich mit angehängtem Abfallen wie in der Regatta um die Luvboje und schon flogen wir wieder in Richtung Hafen zurück.
Zwei andere Segeljachten, die nach uns ausgelaufen waren, und noch näher am Eingang daher stampften, folgten innert kürzester Zeit unserem Beispiel. Auch sie hatten sich das offensichtlich anders vorgestellt. Bald lagen wir wieder am Besuchersteg längsseits und schüttelten die Köpfe. Das gibt es nicht oft, dass wir umkehren. Aber es gibt es auch nicht oft, dass wir in solche Verhältnisse überhaupt hinausfahren. Jetzt war wenigstens klar: Sabrina musste ihr Zugticket umbuchen, was erstaunlicherweise ohne grosse Zusatzkosten möglich war.
Ein Blick in die Meteo-France-App und dann auch in Schraders Wetterwelt zeigte, dass wir auch Tom, der am Sonntag in Dover oder Ramsgate zu uns stossen wollte, einen neuen Ort am französischen Festland angeben mussten. Für die nächsten Tage bis und mit Sonntag war böiger Südwest, West- oder Nordwestwind in unangenehmer Stärke angesagt; wir würden Dunkerque wohl noch etwas besser kennen lernen als erwartet.
Wir vertäuten sea magiX sehr gut mit Ruckfendern und doppelten Leinen und nutzten die guten Busverbindungen ein weiteres Mal für Einkäufe bei Lidl (der auch in Dunkerque feines, lang haltbares und gehaltvolles Sauerteig-Roggenbrot hat) und Spaziergänge durch die Stadt zum Rathaus und auf die Mole hinaus. Die im 2. WK fast vollständig zerstörte und danach (gemäss Musée Portuaire) nur widerwillig wieder aufgebaute Stadt wirkt irgendwie wenig zusammenhängend auf uns. Die teils etwas verlotternden, teils auf Renovation oder Abbruch und Neuaufbau wartenden Quartiere, die Einkaufsstrassen mit vielen geschlossenen Läden, dann die Place Jean Bart mit endlich ein paar geöffneten Cafés, der Kirche und dem Beffroi de Saint-Eloi; das steht alles wie zusammengewürfelt da. Dazwischen fallen die Busstationen mit kleinen Spiegelbaldachinen besonders auf. Gegen Osten werden die Quartiere wohlhabender und gehen irgendwann in Einfamilienhaus-Siedlungen über.
Bänz und ich fuhren mit einem weiteren Bus ostwärts in Richtung «Grand Site des Dunes de Flandres». Ich hatte mir einen Spaziergang im Grünen vorgestellt; anscheinend beginnt mir inmitten dieses Blau- und Graus schon das Grün der Schweiz zu fehlen. Die erste Idee, entlang der Strandpromenade zurück nach Dunkerque zu spazieren, wurde nach den ersten Schritten verworfen: Sandstrahlen ist nicht auf dem Programm. Also doch inland und zu den berühmten Dünen. Wir fanden einen schönen Waldweg, aber auch der führte nach wenigen Metern (nicht wirklich überraschend, im Dünen-Land) hinaus in den feinen Sand; ok, Wandern findet zumindest bei diesem Wetter in Form von Stadtspaziergang statt.
Den Freitag verbrachten wir fast vollständig unter Deck an Bord. Das Wetter hatte zwar eine leichte Windpause eingelegt (logisch, jetzt wo klar war, dass wir bis mindestens Samstag in Dunkerque bleiben würden wegen Sabrinas umgebuchtem Zugticket), dafür aber regnete es gefühlt den ganzen Tag in Strömen. Es wurde gelesen, Steuererklärungen fertig gestellt, Büroarbeiten erledigt und Bericht geschrieben. Dazwischen trotzte der Skipper eine Zeitlang den Elementen und baute im gerade gut zugänglichen Ankerkasten die Plastikunterlage ein, die wir seit einem Bauhausbesuch in Flensburg noch mitführten. Pünktlich, wie von Météo-France vorausgesagt, liess der Regen auf ca. 17h nach. So entschieden wir uns doch noch, wenigstens die paar hundert Meter zum Restaurant «Le Protocole» am Bassin de Commerce zu spazieren, um dort Sabrinas letztes Znacht auf diesem Törn zu geniessen – und von den überall aufgestellten Fernsehern zu profitieren für die Fussballspiele Deutschland-Spanien und Frankreich-Portugal.
Jetzt ist Samstagmorgen. Sabrina und Bänz haben kurz nach 7h das Boot mit Regenschutz und -Schirm verlassen.
Inzwischen hat der Regen wieder nachgelassen, dafür ist der nächste Wind-Sturm mit 7 Bft im Hafen da. Wir krängen am Steg und ich fragte mich gerade, ob das kleine Fingersteglein unser Gewicht überhaupt so aushält, als auf der gegenüberliegenden Seite Bewegung aufkam: dort hat soeben der Fingersteg nachgegeben und das Boot legte sich – samt Fingersteg – an den Nachbarn. Wir halfen kurz mit dem Anbinden des sich verabschiedenden Fingerstegs, dann kümmerten wir uns um weitere Anbindemöglichkeiten für sea magiX. Inzwischen hat der Wind auf deutlich mehr als 30 kn zugelegt und wir hängen an insgesamt 14 Leinen, in der Hoffnung, den grössten Teil des Zugs vom Bug in den Wind und nicht quer ans kleine Steglein verteilen zu können. Aus dem angedachten Ausflug an Land bei dem jetzt sonnig werdenden Wetter wird da wohl nix – wir wollen an Bord sein, falls das Steglein unserem Gewicht doch nicht standhalten kann.
Bänz hat sich soeben daran gemacht, unser Abwaschbecken in der Küche neu abzudichten. Danach gibt es diverse weitere Pendenzen, die auf Erledigung warten – langweilig wird es uns hier nicht werden.
Und: wir haben ja Zeit, ein Privileg, dessen wir uns immer wieder von neuem bewusst werden, vor allem auch im Gespräch mit anderen Seglern, die hier blockiert sind und wegen eines engeren Zeitplans weiter möchten. Irgendwann wird Météo-France sicher schönere Angaben machen.