Die Qual der Wahl

Für uns fühlt es sich momentan an, als ob die Wahl zwischen «Keinem Wind» oder  «zu viel Wind auf die Nase» wäre. Es gibt Stimmen, die behaupten, das sei bei den Seglern immer so. Wir finden es in diesem Jahr trotzdem extremer als sonst. Es scheint sich keine stabile Wetterlage etablieren zu können, mit der man dann für ein paar Tage rechnen könnte. Stattdessen wechseln die Verhältnisse im ca. 6-Stunden-Takt von einem Extrem ins andere und 6 Stunden reichen selten für die Distanzen, die es hier sinnvoll zu berechnen gilt. Dann kommt noch der ständige Wechsel zwischen Regen und trockenen Perioden hinzu, sowie die Phasen von Hitze abwechselnd mit Kälte… Das Wetter zeigt uns mal wieder, wie winzig und unwichtig wir Menschen sind im grossen Vergleich. Und die Segler gleich noch viel winziger. Leider nützt es nichts, wenn wir den Wettergöttern versichern, dass wir die Lektion begriffen hätten: es scheint keine grundlegende Änderung in Sicht zu sein.

Bänz und ich sind nun seit drei Wochen unterwegs – zugegeben, das ist im Vergleich zu den 4 Monaten, die wir haben, noch nicht sehr viel – aber es kommen erste Gedanken über grundlegende Planänderungen auf. Ob wir die Azoren vielleicht mal weniger stark im Visier haben sollten? Vielleicht, angesichts der momentan ruhigeren Lage bezüglich Orcas vor der portugiesischen Küste, doch wieder die Rias von Nordspanien anpeilen? Die hatten uns 2019 extrem gut gefallen, waren aber wegen der Orca-Attacks nicht mehr im ursprünglichen Plan. Könnte sich hier vielleicht eine neue Routenvariante ergeben für diesen Sommer? Wir werden sehen. Was wir einmal mehr gerade wieder lernen, ist der Wert von Plänen: gute Orientierungshilfe, aber nur wenn sie flexibel und offen gehandhabt werden können. Wir haben dieses Glück und den Luxus von Zeit und können deshalb – trotz gelegentlichen Frusts – die etwas missliche Lage recht entspannt erleben.

So liegen wir derzeit den dritten Tag hier in Fécamp im Hafen und haben – momentan – vor, heute Nachmittag für eine weitere Nachtfahrt in Richtung Cherbourg zu starten, wenn der Wind auf Nord gedreht und auf ca. 10-15 kn (ca. 3-4 Bft) zugelegt haben sollte. Leider ist damit gleichzeitig Regen angesagt, aber eben: man kann ja nicht alles haben. Und die Alternative wäre sonst morgen tagsüber zu fahren, wenn der Wind schon wieder einen westlichen Touch bekommen könnte und vor allem wieder auf böige 5-7 Bft zulegen will. Bei Sonnenschein…

Hinter uns liegen drei Tage mit einigen See- und einigen Landmeilen.

Tom gesellte sich am Sonntagabend planmässig zur Crew und am Montagmorgen ging’s früh mit dem Strom und bei schönstem Sommerwetter los in Richtung Westen. Am Nachmittag hatten wir (bei inzwischen einsetzendem leichten Regen) Boulogne sur Mer erreicht und ankerten dort im riesigen, flachen Vorhafen vier Stunden lang, um den hier sehr starken Gegenstrom abzuwarten. Es war das erste Ankern mit unserem neuen Rocna 15. Aber bei quasi keinem Wind im geschützten Hafenbecken war es ein wohl eher freundlicher Test. Naja, jetzt sieht der Anker wenigstens nicht mehr ganz so jungfräulich glänzend aus.

Mit der Stromkenterung ging es wieder los, denn wir wollten den angesagten angenehmen Wind nutzen, auch wenn die Regentropfen ebenfalls in der Vorhersage enthalten gewesen waren. Ein kurzer Gennacker-Abschnitt wurde durch eine deutliche Winddrehung beendet. Ausnahmsweise nicht ungern, denn mit dem fehlenden Fahrtwind war unser Boot plötzlich von Tausenden kleiner Fliegen übersät. Ob die im Genni geschlüpft waren und mit der gefühlten Windstille an Bord bleiben konnten? Kaum segelten wir wieder mit der Genua und etwa halbem Wind, konnten sie sich nicht mehr an Bord halten und verschwanden wieder so schnell, wie sie aufgetaucht waren. Beim Gedanken daran, wie viele weitere dieser kleinen Insekten noch im Genni stecken könnten, wird mir aber ganz unwohl. Wir werden es beim nächsten Genni-Kurs evtl. merken.

Die Nacht wurde anstrengender als geplant oder erhofft. Wir hatten Leonie, unsere Windsteuerung und wichtigstes zusätzliches Crewmitglied in den Dienst genommen. Aber weil der Windwinkel so war, dass sea magiX bei der kleinsten Windänderung deutlich schneller oder langsamer wurde, steuerte Leonie sehr erratische Bögen und musste ständig korrigiert werden. Sie konnte nicht für mehr als 2 Minuten alleine gelassen werden und so fühlte es sich eigentlich an, wie Handsteuerung. Schade, dass es dabei immer wieder regnete und nieselte…

Etwa 10 SM vor Dieppe legte der Wind stark und sehr böig zu. Innert kürzester Frist waren wir mit einem Reff und der Genua vollkommen übertakelt. Auch mit doppeltem Reff und nur noch der halben Genua legte sich sea magiX immer wieder auf die Seite; für Leonie schon lange keine brauchbaren Bedingungen mehr, und auch für Einzelpersonen in der Nachtwache nicht. So zerfiel das übliche Wachsystem schon etwa um 03h. Schneller, aber müder als erwartet waren wir schon um 7h morgens vor der Einfahrt nach Fécamp hinein, natürlich bei Niedrigwasser und somit nur 1.7m über der in der Karte eingetragenen Barre von 0.5m. Unser Tiefgang ist 2m, somit blieben gerechnet noch 30cm Marge… Nochmals ein kleiner Adrenalinstoss, aber dann waren wir schadlos und mit einer kleinsten Wassertiefe von 4.3m im Hafen und konnten sea magiX gut vertäuen.

Eine Dusche und vier Stunden tiefen Schlaf später sah die Welt schon wieder ganz anders aus; wir hatten wieder genug Energie, um Fécamp trotz dem Nieselregenwetter zu erforschen.

Das Musée de la Pèche liessen wir links liegen «für wenns mal richtig regnet» – wir wollten ein wenig Bewegung. Unser Streifzug durch das Städtchen auf der Suche nach seiner Altstadt offenbarte viel Renovationsbedarf, viele geschlossene Läden, Hotels und Restaurants und wenige Menschen. Tom: «Hier wird im Sommer dann sicher viel los sein». Tja, das Wetter hilft wohl auch dem Tourismus in der Gegend nicht, im Moment.

Beeindruckend war vor allem der zur Schau gestellte Reichtum der Benediktinerinnen-Abtei mit ihren Türmchen und Verzierungen. Sicher haben sie ihren Reichtum durch die Distillerie für den berühmten Bénédictine-Likör vergrössert. Aber zuvor war wohl schon die Ausgangslage positiv.

Anscheinend hatte Fécamp und die Mönche im Kloster hier schon im 11. Jahrhundert die berühmte Schlacht von Hastings von William the Conqueror (1066 ist das symbolische Datum, das in England jedes Kind in der Primarschule lernt) mit Spionage und Informationen unterstützt und waren dafür reich entschädigt worden.

Im 19. Und anfangs 20. Jahrhundert baute die Stadt ihren Reichtum auf der Fischerei auf. Heute bilden wohl vor allem der Tourismus an der Kalksteinklippen-Küste und die Versorgung der grossen Windparks wenige Meilen vor der Küste die wirtschaftlichen Grundlagen.

Am Mittwoch, 10.7. war einmal mehr Starkwind aus Südwest angesagt. Bei schönstem Sonnenschein. Wir entschieden uns für die Wanderung von Fécamp oben auf den weissen Klippen nach dem berühmten Etretat mit seinem Kalksteinbogen. Die Vorstellung, dass wir in Fécamp einmal den steilen Aufstieg zu den Klippen machen würden, und dann gemütlich oben spazieren könnten, bis es in Etretat wieder hinunter gehe, entpuppte sich als naive Fehleinschätzung. Gefühlt ging es unzählige Male steil hinunter und wieder hinauf, teils mit Treppen, teils auf Waldweglein. Oben auf der Klippe bliesen die angesagten 5-6 Bft von vorne, so dass die Hüte flogen. Und in den Tälern wurde es heiss, sobald der Wind weg war. Es erinnerte uns stark an die Azoren, auch wenn die grossen Hortensienhecken fehlten und die Vegetation auch sonst recht ähnlich zu der uns aus der Schweiz bekannten ist.

Trotzdem – die Ausblicke auf das blaue Wasser mit Schaumkronen, auf die weissen Küstenabschnitte, oder auch über die weiten Getreide- und Gemüsefelder waren ebenso atemberaubend wie die steilen Auf- und Abstiege. Im Städtchen Yport gab es Fischsuppe, Omelettes und Galettes zur Stärkung und im stark touristisierten Etretat ein grosses Bier bzw. Radler. Wir spürten alle die ungewohnte Bewegung in den Knochen und schliefen auch in jener Nacht sehr tief und gut.

Für heute Donnerstag war nur sehr wenig Wind für den Tag angesagt. Er wurde genutzt, um die Wind-Anzeige im Mast zu revidieren, aber auch für Büro- und Schreibarbeiten. Am Nachmittag wollen wir wie erwähnt starten auf dem Weg nach Cherbourg. Und hoffen, in der Nacht einigermassen angenehme und segelbare Windbedingungen zu haben, auch wenn das Wetter mal wieder ziemlich nass werden soll. Morgen will ja der Wind dann wieder mehr von vorne und vor allem deutlich stärker kommen; zwar bei Sonnenschein, aber vielleicht trotzdem ziemlich anstrengend und nass. Tja, da ist sie wieder, die Qual der Wahl.

Etwas vom Winde verweht vor dem berühmten Felstor von Etretat

Wir werden sehen, wie sich das entwickelt und welche Entscheidung die richtige gewesen wäre. Watch this space 😊.

… nur wenige Stunden später zeigt sich die Instabilität der Wetterlage einmal mehr: der Wetterbericht vom frühen Nachmittag gab nun deutlich an, dass es doch sinnvoller sein dürfte, morgen Freitag früh zu starten, statt heute Donnerstagnacht. Das erspart uns eine weitere Nachtfahrt und wir sind sehr gespannt, ob es morgen tatsächlich bessere Bedingungen gibt, als ursprünglich angesagt. Drum nochmals – watch this space.