Unsere zweite Nacht – die Nordsee, so wie wir sie kennen

Kurz bevor er schlafen geht, schlägt der Skipper zu meinem Erstaunen ein Reff vor, das wir dann auch einziehen. Als ich danach Leonie wieder das Steuer übergeben möchte, klappt es zwar noch einigermassen, aber wir sind einen ganzen Knoten langsamer als gerade vorher, als ich von Hand steuerte. Zudem läuft ihr das Schiff wegen der Wellen immer wieder aus dem Ruder. Wir beschliessen, von Hand zu steuern, und es wird klar, dass wir ab der Dunkelheit die Wachen doppelt führen müssen.

Mit dem zunehmenden Wind von vorne stellt sich auch bald die altbekannte kurze Nordsee-Welle ein. Und schon ist wieder alles wie immer: das Schiff macht trotz sorgfältigem Steuern grosse Bocksprünge wie bei einem Rodeo. Unter Deck fliegt alles, was bisher irgendwo einfach hingelegt worden war, durch die Gegend. Auf Deck bleiben wir zwar noch recht trocken, d.h. es spritzt nur selten bis ins Cockpit. Aber der Bug und der Anker tauchen regelmässig durch die Wellen, die ab und zu auch Schaumkrönchen tragen.

Auf Deck am Steuer bemerkt man das Rodeo nicht so. Wir suchen uns unseren Weg durch die auch um Mitternacht noch in Konturen sichtbaren Wellen und zwischen den hier zahlreichen Bohrinseln hindurch. Die Wolken klaren nach Sonnenuntergang wieder recht gut auf und auch der Mond hängt wieder links von uns, über einem hartnäckigen Wolkenband. Aber diesmal ist das Szenario viel hektischer und auch kälter als in der Nacht zuvor. Es ist, wie wenn die See uns sagen wollte „vergesst nicht, wie ich auch noch kann! Dies ist nur so eine kleine Andeutung…“.

Die Andeutung wird in dem Moment klar, in dem man unter Deck versucht, zur Toilette zu gehen, oder auch nur das Oelzeug zu montieren. Der schon erwähnte Oelzeug-Tanz beginnt. Angelehnt an irgend eine Kante, die einem mit jeder Welle einen Schlag in die Rippen verpasst, versucht man, sich mit einer Hand festhaltend, mit der anderen Hand das Hosenbein zu angeln. Den einen Schuh hat man schon ausgezogen und hat deshalb mit jenem Fuss keinen Halt. In dem Moment, in dem man das eine Bein in der Hose hat, kommt eine besonders grosse Welle und das Schiff macht einen Satz. Gefesselt an den Füssen durch die halb angezogene Oelzeughose, kann man nur noch mit beiden Händen versuchen, sich irgendwo zu fangen oder abzustützen. Wenn man Pech hat, verfehlt man die Handleiste knapp und wird über den Tisch auf die Koje darunter katapultiert. Das gibt mindestens zwei blaue Flecken mehr und die Oelzeughose ist noch immer nicht fertig angezogen…

Auch schlafen ist bei diesen Verhältnissen sehr schwierig. Der Bug, in dem unsere Vorschiffskoje liegt, macht mit jeder Welle einen Weg von 2-3m hoch und runter. Dazu kommen die seitlich Rollenden und dann die Stopper, wenn wir eine Welle genau von vorne treffen. Dort zu „liegen“ um zu schlafen bedeutet eigentlich, dass man ständig in der Luft hängt und irgendwo wieder aufschlägt. Die Wände sind abgeschrägt und durch unser Duvet auch abgefedert, aber irgendwann ist dann doch klar, dass wir nicht vorne, sondern in der Mitte des Bootes, in der Salonkoje liegen müssen, wenn wir nur schon dösen wollen.

Hier zeigt sich ein weiteres PoC Learning: ich finde unser Duvet zwar super schön und angenehm in der Koje vorne, aber ich mag es nicht sehr, es in den Salon zu bringen, denn die Chance, dass es hier nass wird, ist ungleich grösser. Learning: in jedem Fall sollte ein zusätzlicher Schlafsack dabei sein, der für diese Zwecke genutzt werden kann. Oder auch für die Momente, in denen sowohl Bänz als auch ich Freiwache haben, und ein Nebeneinander-Liegen nicht klappt wegen der Krängung.

Die Nacht, die eigentlich auch diesmal nie dunkel wird, geht mit den Zweierwachen und meist erfolglosen Schlafversuchen dazwischen schnell vorbei. Morgens lässt der Wind nach und ich will wieder Leonie in Betrieb nehmen, aber es klappt nicht besser als am Abend. Für solche Kurse auf längerer Fahrt zu zweit müssten wir also noch eine neue Lösung suchen. Vielleicht mit dem Raymarine Autopiloten bei gleichzeitiger Ladung der Batterie mit Gisela? Im Moment geht’s ja noch weil wir zu dritt sind und die Verhältnisse noch immer sehr moderat sind. Beim Ausreffen zeigt sich aber auch gleich ein Nachteil des elektrischen Autopiloten; als er aussetzt, gerade als wir das Manöver fahren wollen, dreht sich Seamagix einmal um sich selbst. Bei nur 2-3 Bft Wind geht das gerade noch gut, mit dichten Segeln, aber bei mehr Wind hätte das ziemlich unangenehm werden können! Ein Blick in den Salon zeigt aber, dass der unerwartete Kringel den Skipper nicht aus dem Schlaf/Dösen gerissen hat.

Ach ja, ein weiteres PoC Learning noch: die Umlenkrollen für Leonie beginnen etwas verdächtig zu ächzen: haben wir genug Ersatz davon an Bord?

Meine Sorge um das Duvet zeigt sich als nicht verfehlt, aber umgekehrt: zum Glück hatten wir es im Salon, denn meine Matratze und mein Leintuch sind morgens patschnass am Fussende. Die Wellen, in die wir regelmässig eingetaucht waren, haben gezeigt, dass die Montage der Ankerwinsch leider nicht dicht ist. Bänz meint nur trocken „ja, ich hab mich immer schon gefragt, wie denn das dicht sein sollte.“ Tja, so trocken kann man das nur kommentieren, wenn es zufällig nicht die eigene Matratze ist, die nass geworden ist… Hoffentlich kriegen wir das noch dicht, denn heute Nacht war wohl nicht das einzige Mal, dass wir Nordseewellen erleben werden!

Mein Unmut wird dann etwas grösser, als es auch noch vom Plastiksack tropft, in welchem ich meine Wäsche habe. Letztes Mal, als wir ein solches Szenario erlebten, war vor etwa 20 Jahren, als wir mit der Senorita gerade nach Irland gesegelt waren und ich in Crosshaven kein einziges trockenes Kleidungsstück mehr hatte. Die Konsequenz damals war, dass wir die Senorita verkauften… – und auf unsere erste X-99 umstellten. Der Skipper versteht die Erinnerung an jene Situation sogleich als Drohung, dabei hatte ich es doch gar nicht so gemeint… oder nur ganz wenig, denn jetzt ist der Sack ja auch nur wenig und nur aussen nass, zum Glück.

Wir stellen bei dieser Gelegenheit aber mit Genugtuung fest, dass die Relingsstützen, die wir letztes Jahr mit viel Ächzen und Stöhnen von innen abgedichtet hatten, jetzt tatsächlich dicht gehalten haben. Denn diese Fahrt war auch für sie ein klarer Test. „Von innen abdichten“ klingt so einfach, aber dazu muss man wissen, dass auf einem Segelboot nie etwas einfach geht. In diesem Fall lagen die Schrauben gut versteckt unter der Innenverkleidung, die eigentlich nicht zum nachträglichen Abmontieren gedacht ist. Zudem liegt mindestens eine davon über der Küche so, dass ich mit meiner linken Hand gerade noch bis dorthin greifen konnte, aber mit der rechten nicht mehr, denn die ist etwas grösser. Wenn ich aber die Hand in den Schlitz zwängte, drückte es mir jeweils das Blut so ab, dass ich nach kürzester Zeit kein Gefühl mehr in den Fingern und sehr schnell auch diverse Blutergüsse an den Unterarmen hatte. Natürlich war auch klar, dass ich eine auf dem Weg verlorene Schraubenmutter nie wieder zu fassen kriegen würde, und so musste das Unterfangen immer sehr vorsichtig angegangen werden. Unterdessen fragte der Skipper jeweils ungeduldig von der Aussenseite, ob ich denn noch nicht bereit sei… Aber wie gesagt, es hat tatsächlich geklappt und sich gelohnt. Nun bin ich mal auf die Abdichtung der Ankerwinsch gespannt.

Der Tag ist wieder geruhsam und sonnig und inzwischen hat der Wind zurück gedreht, so dass Leonie wieder übernehmen kann. Kann es denn tatsächlich so eine gemütliche Sache geben mit dieser Überfahrt?


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