Um 02h wache ich vom Anlassen des Motors auf; schon wieder bin ich eine halbe Stunde zu spät für meine Wache! Bänz meint aber, das sei Absicht gewesen, denn es ist so ruhig und friedlich und leider auch windstill, dass zwei Personen auf der Wache unnötig sind. Er kann dafür dann auch gleich schlafen gehen, sobald ich mit Rettungsweste und Oelzeug (wegen der kühlen Temperatur und hohen Luftfeuchtigkeit) ausgerüstet an Deck ankomme. Im Gegensatz zu vielen anderen Überfahrten in unserer Vergangenheit, gestaltet sich diesmal das Ankleiden sehr einfach und unkompliziert, denn wir haben nicht nur keinen Wind, sondern auch keine Wellen. Sonst muss man nämlich meistens mit einem Bein in der Oelzeughose, einer Hand irgendwo an einem festen Teil des Bootes, und der anderen Hand an der Hose das zweite Bein zu angeln versuchen, während alles rumfliegt und unerwartete Hüpfer macht. Die blauen Flecken und mehr oder weniger unterdrückten Flüche sind dann vorprogrammiert. Im Bewusstsein, dass dies wohl noch kommen wird, geniesse ich die Glattwasser-Variante sehr, auch wenn ich lieber segle als motore!
Wir fahren gerade an drei blinkenden Lichtern vorbei, denen gemäss Plotter ein viertes fehlt. Das hält mich die nächste halbe Stunde auf Trab, denn ich habe keine Lust, mit voller Fahrt in ein unbeleuchtetes Stahlmonster zu donnern. Aber auch auf dem Radar kommen nur drei Echos und das Vierte entdecke ich nicht. Nun, da hat einer wohl eine Boje als Souvenir mitlaufen lassen… ;-)) oder der Plotter hat halt falsche Infos geladen. Auf die Übersegler-Papierkarte möchte ich mich nicht unbedingt verlassen; die stammt aus dem zwanzigsten Jahrhundert und hat noch Bezeichnungen wie „BRD“ drauf. Die Karte reicht von Holland im Südosten bis Schottland im Nordwesten und ist wirklich nur als Orientierungshilfe gedacht. Die darauf eingezeichneten Ölbohr-Felder sind wohl noch immer in der gleichen Gegend, nur kämen auf einer aktuelleren Version viele neue Ölplattformen, sowie viele neue Windparks hinzu. Aber dafür haben wir erstens den Plotter und zweitens sind die recht deutlich sichtbar, im Normalfall. Getreu nach dem altbekannten Moto „Rocks don’t move“ waren wir deshalb nicht all zu enttäuscht, dass es auf Helgoland keine aktuellen Übersegler-Karten zu kaufen gab.
Ich geniesse meine ruhige Nachtwache weiter. Unsere Bugwelle fluoresziert wunderschön mit den aktivierten Algen im Wasser. Es gibt Schiffsverkehr, aber ohne aufregende Kreuzungen, und die Sterne verblassen schon wieder, da im Nordosten der Horizont schnell heller wird. Wir nutzen die Leistung des Motors, um gleich auch wieder den Wassermacher laufen zu lassen, und ich fülle unsere Trinkwasserflaschen ab. Diesmal leere ich ein wenig Holunder-Sirup dazu, damit es wenigstens ein wenig Geschmack erhält.
Schnell vergeht die Zeit, und doch kämpfe ich mit der Müdigkeit, als der Wind allmählich wieder aufwacht und ich um 4h den Motor abstellen und Segel setzen kann. Das Ausbleiben des Brummens weckt Tom, den ich noch eine halbe Stunde hatte schlafen lassen wollen, und ich übergebe ihm dann dankbar die Wache, obwohl ich weiss, dass ich den Sonnenaufgang wohl ganz knapp verpassen werde. Aber so wie ich Tom kenne, wird auch er das Ereignis intensiv knipsen. Ich kuschle mich unterdessen lieber für 1.5 Stunden in die warme Koje und bin sofort im Reich der Träume.
Unser Proof of Concept hat schon das eine oder andere „Learning“ hervorgebracht. Eins davon betrifft meinen Wecker. Ich hatte mir extra eine FitBit Uhr gekauft, weil ich einen Wecker wollte, der mich für die Nachtwachen mit Vibrieren weckt, so dass ich auch mit Ohropax aufwache. Letzteres funktionierte zuhause zu meiner grossen Überraschung bestens. Daraufhin beschloss ich, das Gerät tatsächlich anstelle meiner 10x teureren Schweizer Qualitätsuhr für diese Reise mitzunehmen, obwohl die FitBit nicht wasserdicht ist. Was ich dabei aber nicht beachtet hatte, und erst herausfand, als ich nach der Wachplan-Verkündung meinen Wecker stellen wollte, ist, dass sich die Einstellungen am Gerät nur mit funktionierender Internetverbindung vornehmen lassen. Tja, dass es Situationen geben könnte, in welchen man tagelang keine Internetverbindung hat, war wohl nicht im Konzept dieser Uhr eingebaut… Ich verpasse nun also ständig meine Wachantritte wenn ich nicht brav von Skipper oder Crew geweckt werde. Für nächstes Jahr muss ich also eine andere Lösung suchen.
Weitere Learnings werden sich zum Thema Kontaktlinsen noch ergeben. Da bin ich noch nicht sicher, was die bessere Lösung ist. Für die kurzen Schlafenszeiten von 1.5h nachts will ich sie nicht jedesmal herausnehmen und dann wieder einsetzen – das braucht wertvolle Schlafenszeit. Ich habe Augenbefeuchtertropfen dabei und damit hat’s in der ersten Nacht bestens geklappt.
Der Wind vom sonnigen Morgen hat auf noch klarere Ost-Richtung gedreht und wäre perfekt für einen Spikurs. Tom holt den Parasail aus der Versenkung in unserer Vorrats- und Stau-Koje (wir nutzen die Koje auf der rechten Seite nicht zum Schlafen sondern für Segel- und sonstigen Stauraum und als Vorratskammer), aber dann verlässt mich der Mut. Ich habe mal ein paar You-Tube-Videos gesehen vom Setzen und Bergen dieser Dinger, aber sonst noch überhaupt keine Erfahrung damit. Und Tom und Bänz haben ihn in Rendsburg wenigstens mal ausgepackt und an einem Gartenzaun angehängt, um ihn ganz zu sehen. Wir warten also noch ein wenig, und wecken dann den Skipper ein paar Minuten vor seiner Wache, um den Parasail zu setzen. Weiteres Proof of Concept-Element. Das Setzen dehnt sich etwas länger aus als bei einem normalen Spi, bis die Sorgleinen richtig auf der Innenseite des Segels liegen. Dann aber kommt er hinter dem Grosssegel problemlos hoch und ab dann ists wie normales Spisegeln. Ich probiere gleich noch schnell ein überhöhtes Anluven aus, um zu sehen, ob uns das Schiff aus dem Ruder läuft (das kann man bei so wenig Wind recht gefahrlos testen und weiss es dann für wenn’s mehr bläst), aber das Segel fällt zusammen und es kommt kein grosser Druck aufs Ruder. Vielleicht ist dies tatsächlich ein „entschärfter“ Spi, der sich auch zu zweit und ohne grosse Schwierigkeiten segeln lässt. Tiefbefriedigt übergebe ich Wache, Schiff und Steuer an den Skipper und verziehe mich in meine Koje.
Auch das Bergen des Parasail-Spis gestaltet sich problemlos; bis jetzt hat das sehr teure und sehr unhandliche Ding den Test also bestanden. Wir bergen ihn, weil der Wind inzwischen auf westlichere Richtungen gedreht hat, und wir anluven müssen, wenn wir nicht einfach nach Grönland oder Spitzbergen fahren wollen. Der neue Kurs stellt Leonie vor Herausforderungen; bei leichtem Wind und kleinem Windwinkel bekundet sie Mühe. Allmählich nimmt der Wind zu und bis am Abend hat er von seinen bisher üblichen 2 auf ungewohnte 4 Bft zugenommen.
Das Kochen erweist sich sofort als etwas schwieriger als tags zuvor und ich bin stolz, dass ich es trotzdem schaffe, die Zielvorgabe genau zu erfüllen: wir sind mit dem Essen pünktlich um 18h fertig.