Sie ist die kleinste in der zentralen Gruppe und für uns jene mit den grössten Gegensätzen. Eselskarren fahren am grossen Solarkraftwerk vorbei, eine Marina gibt’s nicht, aber der Fischerhafen heisst Jachten äusserst freundlich willkommen, die WCs im Fischerhafen sind sauberer als in allen anderen Marinas auf den Azoren und die Landschaft vereint das Vulkanische mit viel Landwirtschaft. In unserer Favoritenliste entsteht gerade ein Gedränge um den zweiten Platz. Sao Jorge ist grösser und dadurch vielseitiger, dafür ist uns das Familiäre von Graciosa (hier kennt wohl wirklich jeder jeden und auch wir werden im Strandbad bald wie Freunde begrüsst) äusserst sympathisch.
Mit dem Platz im Hafen hat es offensichtlich geklappt und wir waren sehr froh, dass wir bei Dominique und Bernard von der Romico längsseits gehen durften. Die beiden stammen aus dem Südwesten Frankreichs und verbringen den Sommer auf den Azoren. Sie haben sich schon einen der wenigen Plätze zum Überwintern auf Terceira gesichert, und haben deshalb nicht vor, bald von Graciosa weg zu fahren. So können wir sea magiX ruhig für mehrere Tage bei ihnen längsseits legen, vor einer nicht mehr genutzten alten Slipway. Viele andere Möglichkeiten gibt es nicht wirklich in dem kleinen Hafen wenn der Pilot gerade in Gebrauch ist. Das ist er jedoch nur an wenigen Tagen im Monat, wenn das grosse Versorgungsschiff und der Tanker kommen. Sonst wird er an der Ferry Pier ausgewassert und sein Platz kann ebenfalls genutzt werden, wie auch jene vor ihm an der Betonpier.
Die Formalitäten für die Anmeldung sind sehr zügig und unkompliziert erledigt. Der junge GNR-Mitarbeiter spricht zwar kein Englisch, aber für seine drei Zeilen Notizen auf einem einfachen Papierblock reicht sogar unser Portugiesisch: «Capitao und Tripulaciao», und «4-5 diasch» (mit Fingern), und «da Velasch» und «na Angra du Heroismu, Terceira», und dann ist das auch schon alles. Auch er heisst uns herzlich willkommen. So schön! Wir sind schon ziemlich beeindruckt.
Im Restaurant um die Ecke bei der Mühle, dem Café Tomo La Da Ca gibt’s dann ein feines Fisch-Znacht mit sehr viel Rotwein: der Wirt will unser Abwinken bei einem Liter vinho da casa nicht akzeptieren und bringt uns stattdessen einfach zwei Halbliter-Karaffen. Das An-Bord-Steigen bei nahezu Niedrigwasser via Romico gelingt mir nur mit Bänzs Hilfe und die Nachtruhe folgt sofort, sobald mein Kopf aufs Kissen fällt… Abgefüllt mit rotem Hauswein!
Am Donnerstag wollen wir den Bus zum Ausgangspunkt für die Wanderung zur berühmten Schwefelgrotte mit See (Furna do Enxofre) erwischen. Viel Internetsuche hat ergeben, dass es einen geben muss, der um 08:30h in Santa Cruz, dem Hauptort der Insel losfährt, und eine geschätzte Viertelstunde später in Praia de Sao Mateus ankommt. Wir staunen nicht schlecht, als dann tatsächlich etwa zur richtigen Zeit ein ultramodernes Elektrobüsschen um die Ecke flüstert. Und er wird auch genutzt – als wir bei der Caldeira aussteigen, sind alle Plätze besetzt.
Der Weg zur Schwefelgrotte führt über ein Asphaltsträsschen durch einen Tunnel, via den man in die Caldeira hineingelangt, und dann via das Besucherzentrum zu einem Steinturm mit Wendeltreppe in die Grotte hinunter. Eindrücklich dort unten, wie die Lava vor x-tausend Jahren eine Blase gebildet haben muss, auf deren Grund noch heute ein undurchsichtiger, dunkler See mit kleinem Ruderboot schimmert und am Weg dorthin der Schlamm schweflig vor sich hin blubbert. Dies könnte gut die Vorlage für diverse Heldenepen sein, bei denen ein Schatz nach Überqueren eines giftigen Sees mit Ungeheuern erkämpft werden muss. Sowohl der Herr der Ringe als auch Harry Potter kommen einem sofort in den Sinn hier.
Am Rückweg suchen wir uns einen Pfad, der nicht auf der Asphaltstrasse aus der Caldeira führt, und gelangen unversehens auf den Höhenwanderweg rund um sie herum. Schöne Aussichten auf alle Seiten der Insel wechseln sich mit Urwaldweglein und Kuhweiden ab; ein extra für die Touristen gebautes Aussichtstürmchen wackelt ziemlich im inzwischen stärker gewordenen Wind – einmal mehr sind wir beeindruckt von der Mühe, die sich die Menschen hier gegeben haben, um den wenigen Touristen etwas bieten zu können. Jeder Miradouro ist perfekt ausgebaut mit Geländern, Bänkchen und Beschilderung (und oft auch noch mit Blumenrabatten). Die Wanderwege sind klar markiert und teils mit dem Fadenmäher gut gepflegt und das Besucherzentrum bei der Schwefelgrotte mit seiner ausführlichen Dokumentation wirkt äusserst professionell und für uns zwei Touris schon etwas überdimensioniert. Wie schon die anderen Inseln macht auch Graciosa ganz viel für seine Besucher.
Zurück bei der Bushaltestelle spricht uns die etwa 80-jährige Bewohnerin des Häuschens gleich daneben fröhlich an. In bestem Portugiesisch mit Händen und Füssen und vermischt mit Spanisch und Schweizerdeutsch unterhalten wir uns; sie hat uns schon am Morgen beim Aussteigen gesehen, aber da war sie noch im Pyjama und hat uns deshalb nicht angesprochen. Jetzt zeigt sie uns Bilder von ihrem vor 16 Monaten verstorbenen Mann, freut sich, dass uns Graciosa sehr gefällt und erzählt uns noch einiges mehr, das wir aber leider nicht alles ganz verstehen. 🙂 Im vollbesetzten Elektrobus geht’s dann nach Santa Cruz, mit seiner grossen Praça mit riesigen Bäumen und den schönen Gebäuden rundum. Auch hier wieder alles äusserst gepflegt. Der Spielplatz neben der Praça wird gerade mit dem Fadenmäher und mehreren Laubbläsern von Unkraut und Blättern befreit, und die Mauer rund um den kleinen Teich hinter dem «Graciosa»-Zeichen wird wieder weiss gemalt.
Bei unseren Bemühungen, eine Möglichkeit zu finden, ein Dokument auszudrucken, werden wir von äusserst freundlichen Mitarbeiterinnen von der Post zur Bibliothek und von der Bibliothek zum Rathaus geschickt. Dort bekommen wir nach ein wenig Englisch-Spanisch-Portugiesisch-Gemisch die direkte Mailadresse der Verwaltungsangestellten und könnten das besagte Dokument an sie mailen zum Ausdruck. Auch hier wieder – so viel Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit wärmt dem reisenden Nordländer das Herz.
In der Nacht konnten wir wunderbar geschützt und ruhig wie «in Abrahams Schoss» den Starkwind durchziehen lassen. Am Samstagmorgen geben wir noch den letzten Regenwolken Zeit, sich zu verziehen. Dann mieten wir beim Yamaha-Händler zwei Mountainbikes (leider ohne Motor… der wäre aber auf einer Vulkaninsel immer sehr empfehlenswert!) und machen uns auf zur Inselrundfahrt. Ein Scooter wäre uns natürlich lieber gewesen, aber sowas gibt’s in Praia de Sao Mateus nicht zu mieten. Vielleicht in Santa Cruz, aber das wäre halt doch etwas kompliziert gewesen mit dem fürs Wochenende reduzierten Busfahrplan. So tun wir eben auch noch etwas für unsere Fitness und keuchen die so unscheinbar wirkenden Pässchen hoch und wieder hinunter, über welche die Strasse rund um die Insel führt. Der höchste Punkt der Insel mag ja nicht höher als 405m über Meer liegen, aber wenn jedes Tal dazwischen auf 0 hinunter und danach wieder auf die 400m hoch geht, dann läppern sich die Höhenmeter eben doch zusammen.
Im Nordosten von Santa Cruz liegt die (noch?) nicht fertig gebaute Marina mit einem einsamen Ankerlieger. Tief genug wäre sie in jedem Fall für uns, aber es ist nicht klar, ob sie noch fertig wird, oder ob sie für die nächsten Jahre aus den beiden Molen bestehen bleiben wird. Auch das Hotel gleich dahinter wirkt bereit für die Touristen, die da kommen mögen, aber wir sehen keine. Wann hier denn wohl Hochsaison ist? Überhaupt sind wir in den Tagen auf Graciosa gefühlt weniger als 10 anderen Touristen begegnet. Man beginnt sich zu kennen… Das stört uns natürlich ganz und gar nicht, aber stimmt uns nachdenklich, wenn wir an all die schön gepflegten Wanderwege und Attraktionen denken, die so wohl einfach brach liegen.
Weiter im Norden geht’s zum Farol da Punta da Baraca und seinen wunderschön farbigen Felsen davor. Vor lauter Übermut gerät Bänz mit dem Vorderrad in eine tiefe Furche und wird vom Fahrrad «sanft abgelegt». Nichts passiert, zum Glück, ausser, dass er von oben bis unten mit dem roten Staub der Erde hier bedeckt ist.
An der Nordwestseite der Insel sehen wir wieder viele aufgegebene Weinfelder. Dazwischen Kuhweiden, grasende Esel und Maultiere, immer wieder die obligaten Heiliggeist-Kapellen und viel schöne Küste. Obwohl wir auf der «grossen» Regionalstrasse unterwegs sind, begegnen wir nur ganz wenig Verkehr. Es ist beschaulich und sehr friedlich hier. In Luz gibt’s eine Glacepause und neues Trinkwasser vom Supermarkt; die Steigungen hier sind immer steil und die Sonne heizt bei gleichzeitig hoher Luftfeuchtigkeit so richtig ein.
So haben wir dann im Süden bei den Thermen von Carapacho auch keine Lust auf ein heisses Thermalbad. Und auch ein Sprung ins schöne Meerbad bietet sich wenig an, denn wir sehen schon den nächsten Pass auf uns zukommen, der noch zwischen uns und Praia de Sao Mateus liegt. Dort geht’s dann aber ziemlich schnurstracks an den schönen Sandstrand mit bequemer Süsswasserdusche; dieses Bad haben wir uns verdient! Und den schön kalten Vinho Verde für € 1.20 pro Glas geniessen wir dann ebenso.
Weil wir die Velos am Samstag erst am Mittag abgeben müssen, nutzen wir sie am Morgen noch, um zur Kapelle «da Saude» über dem Ort Praia hinauf zu radeln und dann gleich weiter, auf halber Höhe rund um die Caldeira. Auch hier zeigt sich wieder, dass die Steigungen jeweils unterschätzt werden, aber die Ausblicke sind dann umso schöner. Tiefbefriedigt geben wir die beiden Gefährte dann ab. Schön wars, auch wenn unsere Hintern über die Velopause am Nachmittag nicht unglücklich sind.
Zur Belohnung leisten wir uns beim Restaurant Tomo La Da Ca das Tagesmenü: feine, frische Tomatensuppe und Spaghetti Bolo mit einer Halbliterkaraffe Rotwein und zwei Cafés für je € 6.50… wir werden mit Wehmut an diese Tage zurückdenken wenn wir dann im teuren England sind!
Den Samstagsrest wollte ich eigentlich mit Lesen, Schreiben und einfach «e chli si» verbringen, aber da machten mir die schweren Augenlider einen Strich durch die Rechnung und ich wachte erst wieder auf, als uns Romico zum Apéro und gemütlichen Klönschnak einlud. Einmal mehr ein Privileg, dass auch für ein erweitertes Mittagsschläfchen Platz ist auf dieser Reise und ebenfalls einmal mehr die schöne Gelegenheit, mit anderen Seglern in gute Gespräche zu kommen – wenn auch mal wieder auf Französisch… dabei eröffnen Dominique und Bernard uns zum Schluss, dass sie durchaus auch Englisch, bzw. Schottisch sprechen würden, nachdem sie jahrelang mit ihrer Romico bei Oban und Stornoway gelegen hatten.
Eigentlich hatten wir es überhaupt nicht eilig, diese schöne und so kontrastreiche Insel bald wieder zu verlassen. Aber der Blick in den neusten Wetterbericht zeigte am Samstagabend, dass eine Abreise am Sonntag schon Sinn machen würde, weil es danach eher Wind auf die Nase geben wird für den Kurs nach Terceira. Ein letztes Mal gings daher noch ins gemütliche Strandbad und -Café, dann hiess es aufräumen und sea magiX für den nächsten Schlag nach Südosten, d.h. nach Terceira bereit zu machen. Wir versuchen, all die schönen Momente und Erinnerungsbilder von Graciosa in unseren Köpfen festzuhalten und nehmen uns fest vor, im nächsten Jahr auch hierher wieder zurück zu kehren, wie auch nach Sao Jorge. Es ist ein Fleck Frieden, der auf dieser Welt an ganz vielen anderen Orten fehlt. Ob das im nächsten Jahr noch immer so sein wird? Wir hoffen es!