Tage an Land – was zählt nun wirklich?

Unser Ankernachbar, eine holländische 50-Fuss-Yacht, führte uns am Mittwochmorgen vor, warum im Yachting Pilot die Empfehlung steht, man solle eine Tripleine setzen beim Ankern. Gespannt beobachteten wir, wie er – teils mit Unterstützung durch Franzosen von einer weiteren Yacht in der Bucht – zusammen mit dem eigenen auch noch einen riesigen alten Stockanker hochzog. Und ihn – etwa auf der Höhe der Moorings für die kleinen Boote – wieder zurückfallen liess. Daraufhin revidierten wir unsere Abfahrtzeit auf etwas früher, was sich dann aber zum Glück als unnötige Vorsichtsmassnahme erwies.

Der Wind hatte nachgelassen und auf nördliche Richtungen gedreht und wir hatten vor, damit nach a Coruña zu segeln. Draussen zeigte sich dann eine Charakteristik dieser Küste, die Bänz und ich schon von vor drei Jahren gut kennen: wenig (räumlicher) Wind und viel Schwell. Wirklich viel. Das mag weder ihre Crew noch sea magiX selbst, denn es entsteht ein Stolperkurs, der mit Segeln nicht mehr viel gemeinsam hat. Ein Windstoss füllt die Segel. Sea magiX legt sich ins Zeug und fährt los. Dann kommt eine Quer-Welle aus dem Nichts. Sea magiX zögert kurz und stolpert dann darüber. Der Grossbaum holt Anlauf und knallt in Schot und Schäkel. Ein harter Ruck geht durch das ganze Rigg und sea magiX stoppt ganz ab. Die nächste Welle schiebt uns wieder an und das Stolpern beginnt von vorne. So kommen wir nicht vorwärts und spätestens nach 20 Minuten liegen die Nerven der ganzen Crew blank… Bald brummt der Motor wieder und schiebt uns durch die Wellen, in denen teils das ganze Boot bis zum Grossbaum verschwindet.

Zum Glück ohne Orca-Incident treffen wir am Nachmittag in a Coruña ein und suchen uns zielsicher in der Real Club Nautico Marina mitten in der Stadt ein Plätzchen. Beim Abendspaziergang zur langen Mole hinaus und dann auch in der Stadt stelle ich fest, dass sich die Stadt glücklicherweise in den drei Jahren seit unserem letzten Besuch für uns nicht merklich verändert hat. Meine Begeisterung für a Coruña habe ich schon in den Berichten damals geäussert (siehe «Slowing Down in a Coruña») und sie besteht weiterhin.

Am Donnerstag reift spontan der Entschluss, von hier aus per Zug die Hauptstadt von Galizien und zugleich auch den Touristenmagnet der Region zu besuchen, nämlich Santiago de Compostela. Der Skipper will in a Coruña bleiben und sich um die Pendenzenliste kümmern. Paddy und ich stürzen uns ins Abenteuer, das schon beim Lösen des Zugtickets am Bahnhof beginnt. Zu unserem Erstaunen müssen wir nebst dem Namen auch die Pass- und Telefonnummern jedes Passagiers eintippen. Anschliessend geht’s dann noch durch den Sicherheitscheck mit einer Röntgenanlage fürs Gepäck. Wir brauchen tatsächlich die halbe Stunde Spielraum, die wir zwischen Busankunft und Zugsabfahrt hatten. Nix da mit 2 Minuten Umsteigezeit!

Die Zugsfahrt führt uns über grün bewaldete, endlos scheinende Hügel und durch unzählige Tunnels und ist mit der halben Stunde fast zu kurz, um noch schnell ein paar Informationen über Santiago de Compostela zu recherchieren. Besonders hilfreich ist für uns da die Webseite des Erzbistums Köln: https://www.erzbistum-koeln.de/presse_und_medien/magazin/Der-heilige-Jakobus-der-Aeltere-Apostel-und-Patron-der-Pilger/  Die Legende um die Gebeine des Apostels Jakobus in Santiago de Compostela nahm anscheinend im 9. Jh. nach Christus ihren Anfang. Sehr schnell begann daraus ein Wallfahrtsort zu werden. Die Kathedrale wurde im 11. Jh. gebaut und 1128 geweiht. Die Pilgerströme waren bis ins 15. Jh sehr gross – gemäss dem Erzbistum Köln sogar grösser als jene nach Rom oder Jerusalem (das übrigens für sich beansprucht, den Schädel des Hl. Jakobus zu beherbergen. Wir fragen uns angesichts der Logistik-Ketten in jenen Jahren, wie das genau gegangen sein muss.)

Während des faschistischen Franco-Regimes lebte das Pilgerwesen wieder auf und im Jahr vor der Pandemie wurden mit mehr als 347000 Pilgern fast 1000 pro Tag gezählt. Womit wir bei einem weiteren Thema sind, das Paddy und mich besonders beschäftigt: wer die letzten 100 km zu Fuss oder die letzten 200 per Velo absolviert hat, darf sich offiziell als Pilger anerkennen lassen. Wie ist das nun, wenn man ab Irland 500 SM oder ab Deutschland inzwischen ca. 2200 Seemeilen hinter sich gebracht hat und ja jetzt kein Meer bis zur Kathedrale führt?

Die riesige wirtschaftliche Bedeutung dieses Phänomens wird uns in der verwinkelten, aber gepflegten Altstadt sehr deutlich vor Augen geführt. Klar, es ist gerade Höchstsaison und auch noch schönes Wetter, aber trotzdem: das prägende Bild für uns sind die Menschenschlangen, wo immer wir hinsehen: separate Schlangen für den Zugang in die Kathedrale, fürs Museum und für die Gruft, aber auch vor Läden, deren Bedeutung wir nicht herausfinden und natürlich auch vor den Bars und Restaurants. Es ist bunt, lebendig, fröhlich und – voll. Wahrscheinlich sind wir nach den Weiten der Biskaya bzw. des Meeres allgemein auch ein wenig überempfindlich.

Die Kathedrale an sich gefällt uns nicht übermässig. Von aussen wirkt sie zusammengestückelt und kühl, ja sogar schroff auf mich. Und im Inneren wird man vom vielen Gold des Hochaltars regelrecht erschlagen.

Aber die Gassen und Gässchen der Altstadt, die vielen kleinen Läden und die kleinen und grossen Plätze, und die Stimmung in dieser Stadt werden uns in Erinnerung bleiben. Ebenso wie der Kontrast zum ganz spannend und modern wirkenden, in die Landschaft vollkommen eingebetteten Kulturzentrum auf dem gegenüberliegenden Hügel; der «Ciudad de la Cultura de Galicia». Den Besuch dort drüben sparen wir uns aber für ein andermal auf. Uns ziehts zurück nach a Coruña um zu sehen, wie es dort um unseren Skipper und die Pendenzenliste steht.

Zurück an Bord geht es gleich los mit der Rigg-Inspektion mit Kommunikation via Kopfhörern anstatt für den ganzen Hafen hörbares Geschrei (alles ok im Rigg, ausser dass der Radarreflektor mit Wasser gefüllt ist – woher das wohl kommen könnte in der Regenstube Spaniens?) und dem Besuch in der Pombo-Chandlery, die für sich schon wieder ein Erlebnis ist (ein unglaubliches Labyrinth, in dem sich nur die Inhaber ohne Hilfe zurechtfinden können). Zudem wird der Anker wie schon länger angedroht um ca. 6cm gekürzt, damit er nicht mehr aus seiner Halterung springen und für unfreiwillige U-Boot-Aktionen auf dem Vorschiff sorgen kann, wie im Moray Firth am Weg nach Inverness (siehe den dortigen Bericht von dieser Reise). Dieser Pendenzenpunkt kostet uns insgesamt 3 zerstörte Bohrer und eine nicht mehr brauchbare Trennscheibe, aber der Skipper ist überzeugt, dass es sich gelohnt hat.

Auch an diesem Abend geniessen wir die Tapas in den Gassen a Coruñas, ebenso wie das feine Glacé von der Heladería an der Ecke des grossen Platzes am Hafen. Unser so positiver Eindruck von a Coruña, aber auch von Santiago de Compostela und von Cedeira hat sich weiterhin bestätigt. Wir fühlen uns hier sehr wohl. Und so ist es auch weniger wichtig, ob diese Reise als Pilgerfahrt anerkannt werden könnte. Jakobus ist ja nicht nur Schutzpatron von Spanien und von den Pilgern, sondern auch von Seeleuten (nebst übrigens von der Stadt Innsbruck). Wir sind ihm dankbar, wenn er weiter seinen schützenden Einfluss für uns geltend macht und die unzähligen Schritte unserer diversen Landgänge vielleicht als kleinen Pilgerbeitrag anerkennt. Für uns zählen die vielen spannenden und schönen Erlebnisse hier; die Begegnungen mit so hilfsbereiten und liebenswürdigen Menschen; die wilden und dann wieder lieblichen Küsten; die unterschiedlichen Lebensweisen der verschiedenen Kulturen. Und: dass wir so viel Zeit haben, um dies alles geniessen zu können.


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